Kooperation zwischen Darm und Hirn – Modulierung von Psyche, Muskeln und Immunsystem

In den letzten Jahren haben unsere mikrobiellen Mitbewohner im Darm dank intensiver Forschung eine geradezu sensationelle Karriere hingelegt. Noch bis vor einigen Jahrzehnten waren sie wenig bekannt und wurden bestenfalls als Hilfskräfte bei der Verdauung und als Lieferant einiger Vitamine angesehen. Das hat sich gründlich geändert. Die Mikrobiomforschung fördert jährlich Erkenntnisse ans Licht einer staunenden Öffentlichkeit, die vorher kaum jemand mit der als Mikrobiom bezeichneten Darmflora in Verbindung gebracht hätte. Noch lange nicht alles ist bis ins Detail erforscht. Vieles kennen wir nur aus Tierversuchen, deren Ergebnisse nur mit Vorsicht auf den Menschen zu übertragen sind. Trotzdem haben wir heute schon einen ziemlich umfassenden Überblick, was die Darmflora leistet und leisten könnte.

Darmflora ist vielfältig und einzigartig wie ein Fingerabdruck

Jeder Mensch hat eine für ihn typisch zusammengesetzte Darmflora, die ähnlich einzigartig wie ein Fingerabdruck sein soll. Dies ist eines der grundlegenden Ergebnisse des Human Microbiome Projects, das sich zum Ziel gesetzt hatte, das komplexe Ökosystem mit dem Namen humanes Mikrobiom von möglichst vielen Menschen zu analysieren. Besonderes Augenmerk legten die Forscher dabei auf die Darmflora, da sie der wohl bedeutendste Teil des Mikrobioms ist. In ihr leben vorwiegend Bakterien, aber auch Viren und Pilze. Bisher sind etwa 1000 verschiedene Bakterien-Arten identifiziert. Da die Identifizierungsmethoden immer weiter verfeinert werden, ist zu erwarten, dass die Zahl der neu entdeckten bakteriellen Mitbewohner noch weiter ansteigen wird. Trotz großer Variabilität haben die Forscher aber auch Muster in der Zusammensetzung der Darmflora erkannt, die sich in drei als Enterotypen bezeichnete Darmflora-Typen zusammenfassen lassen. Derzeit arbeiten Wissenschaftler daran, diese einzelnen Enterotypen mit bestimmten Eigenschaften der Menschen zu korrelieren.

Der Bauch redet mit dem Gehirn – Was die Darm-Hirn-Achse leistet

Der Begriff „Darm-Hirn-Achse“ beschreibt einen Kommunikationsweg zwischen Darm und Gehirn, der lange Zeit unbeachtet geblieben war und auch nicht für möglich gehalten wurde. Geht es um nichts weniger als um die Steuerung von Gehirnfunktionen durch den Darm. Eine für viele bis heute schwer verdauliche Kost, gibt sie dem Begriff „Bauchgefühl“ doch eine völlig neue Bedeutung. Was steckt also hinter der Darm-Hirn-Achse und wie muss man sich eine Steuerung von Hirnfunktionen durch den Darm vorstellen? Natürlich darf man sich die Unterhaltung zwischen Darm und Gehirn nicht im Wortsinne vorstellen. Auch wenn die Art der Kommunikation noch nicht in allen Teilen geklärt ist oder das Stadium von tierexperimentellen Beobachtungen überschritten hat, glaubt die Forschung heute zu wissen, dass der Darm mit seiner Darmflora auf mindestens drei Wegen mit dem Gehirn zum Informationsaustausch in Kontakt treten kann. Dazu gehört insbesondere der Vagusnerv, der Darm und Hirn kommunikativ verbindet. Aber auch Hormone und Neurotransmitter wie Serotonin, Dopamin oder Melatonin spielen eine bedeutende Rolle. Sie alle werden im Darm produziert, um in Nervenzellen des Gehirns zu wirken. Ferner sind Stoffwechselprodukte der Darmbakterien an der Kommunikation beteiligt. So kann Buttersäure die Eigenschaften der Bluthirnschranke verändern. Auch Immunmoleküle und Zytokine, die von Darmbakterien produziert werden, können die Physiologie von Nervenzellen beeinflussen.

Darmmikrobiom beeinflusst Psyche – Es könnte Psychobiotika geben

Untersuchungen zur Zusammensetzung und Funktion der Darmflora weisen darauf hin, dass die Art ihrer Zusammensetzung Hirnfunktion und seelisches Gleichgewicht beeinflussen. Ist die Darmflora gestört und Bakterien mit schädigendem Einfluss gewinnen die Überhand, korreliert dies mit psychischen Befindlichkeitsstörungen bis hin zu psychiatrischen Erkrankungen wie Depressionen, wie eine Forschergruppe aus Belgien nachweisen konnte. Die Forscher untersuchten gut 1000 Stuhlproben auf ihre mikrobielle Zusammensetzung und korrelierten diese mit der psychischen Gesundheit ihrer Besitzer. Dabei identifizierten sie Bakterienstämme, die bei Menschen mit guter mentaler Gesundheit gehäuft vorkommen. Umgekehrt wies das Fehlen dieser Bakterien auf psychische Störungen einschließlich Depressionen hin. Spannend wird es, wenn es darum geht, durch die gezielte Gabe solcher Bakterien psychische Störungen zu beheben. Dazu gibt es noch nicht keine ausreichenden Daten, die es erlauben würden, einen Cocktail psychoaktiver Bakterien therapeutisch als Psychobiotika einzusetzen. Wünschenswert wäre es auf jeden Fall, da die heute zur Verfügung stehen Psychopharmaka ihre Schattenseiten haben.

Darmflora steuert Muskelwachstum – Darmbakterien wirken wie Anabolika

Gezielte Trainingsaktivitäten fördern den Muskelaufbau und können krankhaften oder altersbedingten Muskelschwund ausgleichen. Ob dabei auch das Mikrobiom im Darm eine entscheidende Rolle spielt, ist bisher noch nicht vollständig verstanden. Tierexperimentelle Studien an Mäusen deuten darauf hin, dass das Mikrobiom in seiner Gesamtheit das Muskelaufbautraining der Tiere unterstützt. Dazu wurde Mäusen zunächst ihre mikrobielle Flora vollständig durch Antibiotika zerstört. Danach trainierten die Tiere ebenso wie ihre unbehandelten Artgenossen auf dem Laufrad. Bei Tieren mit intaktem Mikrobiom war der Trainingseffekt, gemessen als gebildete Muskelmasse, deutlich größer als bei den Tieren ohne Mikrobiom. Ob für den anabolen Effekt spezielle Bakterienstämme oder von ihnen gebildete Anabolika verantwortlich sind, soll durch weitere Studien geklärt werden.

Mikrobiom moduliert Immunität – Unspezifische Immunabwehr wird aktiviert

Wie kann das Immunsystem schnell auf Krankheitserreger reagieren und den Menschen vor Infektionen schützen? Eine Antwort liefert das Mikrobiom. Grob unterteilt besteht das Immunsystem aus zwei Abteilungen, dem angeborenen, unspezifischen und dem adaptiven, spezifischem Immunsystem. Das Mikrobiom kommuniziert mit als dendritische Zellen bezeichneten Strukturen des angeborenen Immunsystems und versetzt diese in permanente Reaktionsbereitschaft. So aktiviert, ist das angeborene Immunsystem schnell in der Lage, auf Eindringlinge aus den Atemwegen, dem Darm oder über die Haut zu reagieren und in einem zweiten Schritt das spezifische Immunsystem zu alarmieren. Bleibt die Aktivierung wegen Störungen des Mikrobioms aus, kann die Immunabwehr den Angreifer nicht so schnell abwehren, wie Experimente mit keimfreien Mäusen gezeigt haben. Dadurch wird auch die Alarmierung des spezifischen Immunsystems verzögert. Welche Biomoleküle für die Kommunikation zwischen Mikrobiom und Immunsystem verantwortlich sind, wird durch Immunologen der Berliner Charité erforscht.

Kolonisationsresistenz - Darmbakterien schützen vor Krankheitserregern

Eine gesunde Darmflora als Teil des menschlichen Mikrobioms setzt sich aus einer Vielzahl von Mikroorganismen zusammen. Moderne Analyseverfahren fördern immer neue, bisher unbekannte Bakterienarten zutage. Zurzeit geht die Forschung von mindestens 1000 unterschiedlichen Darmbakterien und einer weitgehend unbekannten Anzahl von Viren und Pilzen aus. Diese mikrobielle Vielzahl ist ein wichtiger Bestandteil der Kolonisationsresistenz, die das Aufkommen anderer Bakterien unterdrückt und vor Krankheitserregern schützt. So sorgt eine gesunde Darmflora dafür, dass sich keine Krankheitserreger im Darm vermehren können und über die Darmschleimhaut in den Blutkreislauf gelangen.

Mikrobiom ist ein Bioreaktor - Bakterien produzieren wichtige Biomoleküle

Die Kommunikation zwischen Darm und Gehirn erfolgt sowohl nerval über den Vagusnerv als auch humoral über Neurotransmitter und Neurohormone. Die meisten der humoralen Botenstoffe werden im Darm von Darmbakterien gebildet, aber auch im Gehirn. So wird eine wechselseitige Kommunikation gewährleistet. Beteiligt an der humoralen Kommunikation sind Serotonin, Noradrenalin und Dopamin. Serotonin wird auch als Glückshormon bezeichnet und trägt in erheblichem Maße zum seelischen Wohlbefinden bei.
Weniger bekannt sind kurzkettige Fettsäuren, die ebenfalls von den Darmbakterien gebildet werden. Zu ihnen gehören Buttersäure (Butanoate) und Valeriansäure (Pentanoate), die einer Studie der Universitäten Würzburg und Marburg zufolge Immunzellen mehr Aggressivität verleihen. Gelänge es, diesen Effekt der beiden Fettsäuren gezielt therapeutisch einzusetzen, könnten damit Krebstherapien wirksamer gestaltet werden. So die Hoffnung der Forscher.
Bakterien der Darmflora produzieren auch Vitamine. Dazu gehören Biotin, Folsäure, Vitamin B2 und B12 sowie Vitamin K. Vom Vitamin B12 ist bekannt, dass ein erheblicher Teil des täglichen Bedarfs von Darmbakterien produziert wird.

Fazit: Wer glaubt, zum Darm und seiner Darmflora sei alles bekannt und nichts Neues mehr zu entdecken, irrt. Aktuelle Forschungsprogramme suchen sehr intensiv nach Möglichkeiten, durch gezielte Veränderungen der Darmflora einige Erkrankungen zu therapieren. Das geht bis zum vollständigen Ersatz einer krankhaft veränderten Darmflora durch eine gesunde mit gewünschten Eigenschaften.

Quelle: Valles-Colomer, M., et al. The neuroactive potential of the human gut microbiota in quality of life and depression. Nat Microbiol 4, 623–632 (2019). https://doi.org/10.1038/s41564-018-0337-x
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Laura Schaupp et al. Microbiota-Induced Type I Interferons Instruct a Poised Basal State of Dendritic Cells, Cell Volume 181, ISSUE 5, P1080-1096.e19, May 28, 2020DOI:https://doi.org/10.1016/j.cell.2020.04.022
Maik Luu, et al. Microbial short-chain fatty acids modulate CD8+ T cell responses and improve adoptive immunotherapy for cancer. Nature Communications, https://doi.org/10.1038/s41467-021-24331-1